(Biberach, 20.02.2022, SZ) Familien, die für ihr Kinder einen Kindergartenplatz in Biberach gefunden haben, können sich glücklich schätzen. Aufgrund des großen Personalmangels ist es nicht möglich, allen Kindern einen Platz anzubieten. Die Kindergärten suchen händeringend nach Erzieherinnen und Erziehern.
Die Leidtragenden sind am Ende die Kleinen. Wenn es sich dann auch noch um Kinder mit Migrationshintergrund und einer schweren Kindheit handelt, ist es besonders akut. Der fehlende Kontakt zu anderen Kinder und die Sprache erschweren die Integration und auch die persönliche Entwicklung. Dieser erhöhte Förderbedarf kann nicht gedeckt werden.
Der Junge hatte nie richtig Kontakt zu anderen Kindern.
Margit Bauer
Aria ist fünf Jahre alt und lebt gemeinsam mit seiner Familie in Biberach. Seine Eltern versuchen seit Monaten einen Kindergartenplatz für ihn zu bekommen. Ohne Erfolg. Auch Margit Bauer von der ökumenischen Migrationsarbeit der Caritas setzt sich für die afghanische Familie ein.
Bislang gab es von allen Seiten nur Absagen. „Der Junge hatte nie richtig Kontakt zu anderen Kindern, sondern sah meistens nur Gemeinschaftsunterkünfte und darin Menschen mit vielen Sprachen, aber leider kein Deutsch“, erzählt Margit Bauer, die sich seit Jahren ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagiert. „Seine Sprachentwicklung ist daher massiv gestört, er spricht kaum Dari mit den Eltern und überhaupt kein Deutsch.“
Aria braucht Kontakt zu anderen Kindern
Die Eltern waren mit ihm beim Kinderarzt: „Er hat gesagt, dass Aria dringend Kontakt zu anderen Kindern braucht, seine Entwicklung wird dadurch verzögert“, sagt Vater Khosrow Auriakhail. „Jeden Tag sagt er mir, er will unbedingt in den Kindergarten gehen.“ Khosrow Auriakhail ist allerdings nicht der leibliche Vater von Aria, er hat seine Mutter im Januar 2021 in Biberach geheiratet.
Margit Bauer hat bereits überall angeklopft. Bei den städtischen und kirchlichen Einrichtungen und auch beim Verein Lernen Fördern. „Überall kommt dieselbe Antwort: Es gibt nicht ausreichend Personal und deshalb auch keinen Platz“, erzählt die Biberacherin. „Wir haben in Biberach eine echte Notsituation.“
Ganz so drastisch will das Andrea Appel, Pressesprecherin der Stadt Biberach, nicht stehenlassen: „Es gibt noch einige freie Kindergartenplätze in den Teilorten. Diese Plätze werden von Eltern aus Biberach in der Regel aber aufgrund der Entfernung nicht angenommen“, sagt sie. „In den Provisorien in der Waldseer Straße und in Birkenhard können einige freie Plätze wegen Personalmangels nicht belegt werden.“ Der Fachkräftemangel ist also auch in der Region zu spüren.
Schon einiges durchgemacht
Ein weiteres Problem, dass sich in diesem Fall auftut, ist die nicht ganz so einfache Lebensgeschichte des kleinen Aria. Sein leiblicher Vater wurde gegenüber der Mutter gewalttätig. Er wurde im Jahr 2019 zu einer Haftstrafe verurteilt und schließlich nach Afghanistan abgeschoben. Der Fünfjährige hat in seinem jungen Leben also schon einiges durchgemacht. Jetzt geht es der Familie darum, ihm in Biberach ein normales Leben zu ermöglichen.
Kurzzeitig besuchte Aria den Albert-Hetsch-Kindergarten in Biberach. Von dort sei er laut Margit Bauer aber nach einer Woche in den Schulkindergarten nach Birkendorf verschoben worden. Die Gruppe des Vereins Lernen Fördern wurde allerdings Ende Oktober wegen Personalmangels aufgelöst und Aria musste den Kindergarten wieder verlassen. „Seither ist er wieder zu Hause. Während der zwei Monate im Kindergarten begann er langsam Deutsch zu sprechen, aber nun hat sich das leider wieder total verloren“, sagt die Ehrenamtliche.
Beim Verein Lernen Fördern kennt man den Fall des afghanischen Jungen. „Er war bei uns, hat aber ein sehr auffälliges Verhalten gezeigt, sodass es mit einer Fachkraft nicht möglich ist, ihn gemeinsam in einer Gruppe zu betreuen“, heißt es vonseiten der Geschäftsleitung. „Eigentlich bräuchte er eine 1:1-Betreuung, das ist in unserer Einrichtung nicht möglich. Unser Förderschwerpunkt liegt auf dem Lernen.“ Der Fall sei natürlich tragisch, denn am Ende sei der Junge der Leidtragende.
Antrag ans Ministerium bisher erfolglos
Für Kinder mit einem erhöhten seelisch-pädagogischen Bedarf, wie es laut Lernen Fördern bei Aria der Fall ist, gibt es in Biberach wenig Möglichkeiten. „Wir haben bereits einen Antrag beim Kultusministerium für einen Schulkindergarten für Kinder mit einem seelisch-pädagogischen Bedarf gestellt, waren aber bisher erfolglos“, so die Geschäftsleitung. Denn der Bedarf in diesem Bereich nehme zu – ganz egal, ob es sich dabei um ausländische oder deutsche Kinder handele.
Laut Margit Bauer wurde von einer Kinderpsychiaterin ein Gutachten für Aria erstellt, in dem sie ihm bescheinigt, ein normales Kind zu sein, aber eben ein „late talker“, also ein Junge, der sehr wenig spricht, beziehungsweise spät angefangen hat zu sprechen. „Mit ein wenig logopädischer Unterstützung würde sich das bestimmt schnell legen“, sagt Margit Bauer.
Auch die Stadtverwaltung bestätigt, dass es gerade für Kinder, die in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen sind, nicht einfach ist, es gibt jedoch andere Möglichkeiten zur Integration: „Es ist zutreffend, dass Kinderbetreuungseinrichtungen generell nicht alle Defizite auffangen können, die Kinder teilweise mitbringen“, sagt Pressesprecherin Andrea Appel.
„Wichtig ist daher zum Beispiel bei Familien, die aus dem nicht deutschsprachigen Ausland kommen auch, dass die gesamte Familie alle Möglichkeiten nutzt, die einer Integration förderlich sind. Wir bieten an unserer VHS die verschiedensten Integrations- und Deutschkurse. Unser Integrationsbeauftragter Daniel Poßeckert kann auf Wunsch in Sportvereine oder Sprachförderangebote vermitteln, in denen das Kind in Kontakt mit gleichaltrigen Kindern kommt und in seiner Integration gefördert wird, bis es mit einem Kindergartenplatz klappt, um nur einige Beispiele zu nennen.“
Frustrierend für Ehrenamtliche
Auch solche Dinge hat Marit Bauer bereits in Angriff genommen. „Bei der TG habe ich nachgefragt, ob der Kleine vielleicht im Kinderfußball mitspielen kann.“ Bisher sei aber noch keine Antwort gekommen.
So richtig hilfreich ist das alles im Moment nicht für die Familie. Lernen Fördern hat ihnen ein Angebot gemacht, dass Aria zweimal pro Woche für jeweils eineinhalb Stunden kommen kann, dieses Angebot kann die Familie aber nicht annehmen, da der Vater berufstätig ist und er Aria deshalb nicht ständig hin- und herfahren kann. Auch im neu eröffneten
Kindergarten Birkenstrolche in Birkenhard hat Margit Bauer schon ihr Glück versucht: „Dort wurde ich abgewiesen mit der Bemerkung: Lernen Fördern müsste sich um ihn kümmern, da er dort zuletzt war.“ Für die Ehrenamtliche ist das alles sehr frustrierend und so richtig verstehen kann sie das alles nicht:
Es ist ein Teufelskreis, in dem sich der arme Bub befindet. Bisher leider ohne irgendeine Aussicht auf einen Ausweg.
Biberach bietet mit verschiedenen Trägern (Stadt, Hospital, Kirchen, freie Träger) fast 1500 Plätze zur Kinderbetreuung. „Die Stadt ist ständig bemüht, ausreichende Angebote zu schaffen, um dem Bedarf gerecht zu werden“, sagt Pressesprecherin Andrea Appel. „Der Bedarf an Kinderbetreuungsplätzen steigt jedoch stetig an und die Stadt unternimmt große Anstrengungen, diesem gerecht zu werden und investiert viel.“
Akuter Engpass in Biberach
Biberach baue seit Jahren die Qualität und die Anzahl der Betreuungsplätze stetig aus und habe viele schöne Einrichtungen geschaffen. Dennoch gibt es derzeit einen akuten Engpass an Plätzen.
Aktuell entsteht im Baugebiet Hauderboschen ein Kindergarten mit 90 Plätzen. Bis zur Inbetriebnahme nach den Sommerferien wurden als Übergang Plätze in Birkenhard geschaffen. Seit dem 3. Februar ist die Einrichtung in Betrieb. Im Zuge des Um- und Erweiterungsbaus des Kindergartens Sandgrabenstraße (45 Plätze) sind seit Dezember 2021 Plätze im Kindergarten Waldseer Straße eingerichtet, die bis zum Abschluss der Bauarbeiten nach den Sommerferien als Überbrückung dienen.
Die Stadt wendet jährlich rund 18 Millionen Euro für den laufenden Betrieb der Kindertageseinrichtungen der freien Träger und der kommunalen Einrichtungen in Biberach auf. Diese Aufwendungen erhöhen sich seit vielen Jahren kontinuierlich. Grund hierfür sind die laufend zunehmende Zahl an Betreuungsplätzen und steigende Betreuungszeiten in den Einrichtungen.
„Daher kann es leider nicht immer ausgeschlossen werden, dass ein Kind nicht sofort untergebracht werden kann. Das ist unabhängig von der Herkunft oder Deutschkenntnissen der Fall“, sagt Andrea Appel. „Nach Abschluss des Aufnahmeverfahrens mussten wir rund 50 Absagen für das laufende Kindergartenjahr erteilen.“
Foto und Text: Tanja Bosch
Bildunterschrift: Margit Bauer setzt sich gemeinsam mit Khosrow Auriakhail dafür ein, dass der kleine Aria einen Kindergartenplatz bekommt.