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    Heidemarie Wieczorek-Zeul spricht über Zuwanderung, die EU und Fluchtursachen

    Biberach, 08.04.2016 (Tanja Bosch, ©Schwäbische Zeitung)

    Biberach sz
    Die ehemalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Heidemarie Wieczorek-Zeul (Foto: Tanja Bosch), ist für einen Vortrag zum Thema „Die Welt FairBesser – aber wie?“ zu Gast in Biberach gewesen. Redakteurin Tanja Bosch hat sie getroffen und mit ihr über die Bekämpfung von Fluchtursachen, den EU-Türkei-Deal und die Zukunft in Deutschland gesprochen.

    Eine große Debatte wird derzeit über die Bekämpfung von Fluchtursachen geführt. Was muss aus Ihrer Sicht getan werden?

    Zunächst muss einem klar sein, dass die Bekämpfung von Fluchtursachen ein sehr langfristiger Prozess ist. In den man vor Jahren stärker hätte einsteigen sollen. Jetzt wirkt es nicht sofort, als ob wir einfach einen Hebel umlegen müssten. Aber wie wir uns heute verhalten, hat auch noch in den nächsten 50 Jahren Auswirkungen, das muss jedem klar sein. Unsere Art zu wirtschaften und wie wir bisher die Probleme outgesourced haben – Waffenexporte, Agrarexporte, CO2-Emissionen – das geht nicht mehr, ohne dass die Auswirkungen zum Beispiel in Form von zunehmenden Flüchtlingszahlen spürbar werden. Die Probleme erreichen uns irgendwann selbst. Viele Fluchtursachen sind „made in Europe“.

    Welche zum Beispiel?

    Allein der „Export“ von Elektroschrott ist erschreckend. Wenn man sieht, wie Kinder aus diesem Schrott versuchen Ressourcen herauszuholen und dabei ihre Gesundheit ruinieren. Das ist schrecklich, da müssen wir etwas tun. Wir müssen auch dafür sorgen, dass es in den Industrieländern eine wirklich grundlegende Klimaschutz- und Energiepolitik gibt, die auf regenerative Energien setzt. Alles natürlich langfristig, aber man kann nicht sagen, wir lassen es halt dann lieber bleiben, weil es zu lange dauert.

    Was halten Sie eigentlich vom EU-Türkei-Deal?

    Zunächst einmal würde ich gerne sagen, dass ich es zutiefst unmoralisch und falsch finde, dass die Balkanstaaten die Balkanroute geschlossen haben. Die Bilder von Kindern, Frauen und den Flüchtlingen in Idomeni, die da im Schmutz und Regen leiden, sind unerträglich. Dass da keine Regelung gefunden wird, ist eine Schande. Diese Menschen hätte man sofort aufnehmen müssen. Vorschläge dazu gab es ja. Es entsteht der Eindruck, mit diesen Bildern will man die Menschen abschrecken aus ihrer Heimat zu fliehen, und das ist wirklich widerwärtig.

    Nun zum EU-Türkei-Abkommen.

    Man kann noch gar nicht einschätzen, wie das real abläuft, deshalb bin ich da sehr vorsichtig. Wichtig ist, dass das Grundrecht auf Asyl respektiert wird und auch die Genfer Menschenrechtskonvention. Und weiterhin müssen natürlich Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen werden. Den „Deal“ beobachte ich mit großer Zurückhaltung.

    Was können wir aus der aktuellen Flüchtlingssituation für die Zukunft lernen?

    Wir brauchen auf jeden Fall eine stärke Zuständigkeit der Europäischen Union und auch eine stärkere Finanzierung der EU, damit eine gemeinsame Flüchtlingspolitik entsteht. Es ist ein europäisches Problem, das kann man nicht auf einzelne Länder abschieben. Warum nutzen wir nicht die aktuelle Situation, um mit einem großen Investitionsprogramm der Austeritätspolitik in der EU den Kampf anzusagen? Die bisherige Austeritätspolitik tötet die Solidarität. Wir müssen auf jeden Fall für eine gerechte Gestaltung der Globalisierung kämpfen.

    Unterschrift Foto: Heidemarie Wieczorek-Zeul informiert sich in Biberach bei verschiedenen Organisationen. Bild: Tanja Bosch, ©Schwäbische Zeitung