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    Der Druck auf die Bundesregierung steigt

    Biberach, 19.08.2021 (Kai Schlichtermann, ©Kai Schlichtermann)

    Der Druck auf die Bundesregierung steigt: Immer mehr Regionen, Städte und Flüchtlingsverbände sprechen sich dafür aus, mehr vormalige afghanische Mitarbeiter, die für deutsche Regierungsorganisationen am Hindukusch gearbeitet haben, nach Deutschland zu holen. Auch der Landkreis Biberach hat signalisiert, mehr Menschen Schutz zu bieten. Petra Alger, Dezernentin für Soziales, Jugend und Gesundheit im Landratsamt Biberach, teilte der SZ mit: „Selbstverständlich steht der Landkreis Biberach zu seiner Zusicherung, Flüchtlinge auch über die Quote hinaus aufzunehmen. Dies hat er auch in der Vergangenheit immer wieder getan, wenn er von Bund und Land dazu aufgefordert wurde.“

    Riedlingen bleibt offen für Ankömmlinge aus Afghanistan

    Auch die Stadt Riedlingen will geflohenen Afghanen eine Bleibe bieten. So habe es die Stadt bei der Flüchtlingskrise vor sechs Jahren gemacht, teilt Riedlingens Bürgermeister Marcus Schafft mit. „Wir haben pragmatisch und menschlich in jedem Einzelfall unterstützt und nach Lösungen gesucht. Und so werden wir auch in einer solchen Situation verlässlich mit dem Kreis kooperieren.“ Angesichts der menschlichen Tragödie in Afghanistan ist sich Marcus Schafft sicher, dass ehrenamtliche Mitarbeiter im Bereich der Flüchtlingshilfe nicht abseitsstehen würden, sondern nach ihren Möglichkeiten unterstütze.

    Eine typische Arbeitssituation für die Riedlingerin Charlotte Mohn bei der Internationalen Organisation für Migration in Kabul mit lokalen Kollegen. (Foto: Charlotte Mohn)

    Laut Außenminster Heiko Maas hat sich das Kabinett bereits vor der Machtübernahme der Taliban darauf geeinigt, 2500 afghanische Ortskräfte nach Deutschland zu holen. Das seien hauptsächlich Mitarbeiter der Bundeswehr. Davon sind rund 2000 bereits in Deutschland. Allerdings konnten aufgrund der dramatischen Ereignisse in Afghanistan und der Blockade des Flughafens in Kabul bislang nur eine geringe Zahl weitere Afghanen nach Deutschland ausgeflogen werden.

    Menschenrechtler fordern größeres Engagement

    Experten und Menschenrechtsorganisationen sagen, die Zahl derjenigen Ortskräfte, die für deutsche Organisationen in Afghanistan gearbeitet haben und unter den Taliban um ihr Leben fürchten müssen, sei um ein Vielfaches höher. Eine online initiierte Petition auf Change.org fordert eine unbürokratische Rettung aller gefährdeten Afghanen per Luftbrücke nach Deutschland. Am Mittwoch haben bereits mehr als 62 000 Menschen unterzeichnet.

    Das Interkulturelle Forum in Biberach hat derweil am Mittwoch einen offenen Brief an Ministerpräsident Winfried Kretschmann geschickt, in dem sie ihn angesichts der Lage in Afghanistan dazu auffordern, auf die Bundesregierung einzuwirken, damit mehr Männer, Frauen und Kinder aus dem von den Taliban regierten Land nach Deutschland reisen können. „Wollen Sie wieder Bilder sehen, wie Frauen gesteinigt werden?“, fragt das Forum.

    „Wir nicht. Wir wollen, dass so viele Menschen wie möglich gerettet werden“, schreibt die Organisation. Sie fordert, dass sämtliche Ausreise-Formalitäten in Deutschland nachgeholt werden. Diese sollten nicht der Grund sein, die gefährdeten Menschen in Afghanistan zurückzulassen. Dagmar Rüdenburg fordert im Gespräch mit der SZ zudem, Deutschland müsse sich dafür einsetzen, sichere Fluchtwege aus Afghanistan zu schaffen, denn die Menschen seien dort derzeit von der Außenwelt abgeschnitten.

    Menschen mit afghanischen Wurzeln bangen um ihre Familien

    Martin Gerster, SPD-Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Biberach, hofft, dass „in den nächsten Tagen noch viele Leute aus Afghanistan ausgeflogen werden können. Es muss jetzt schnell gehen“. Zugleich erwartet er vom Landkreis Biberach, ausreichend Unterkünfte für die Ortskräfte bereitzustellen, die bundesweit nach einem Schlüssel verteilt würden. „Wir müssen ein klares Signal geben, dass wir helfen.“

    Manija Lashkary aus Riedlingen weiß, wie dramatisch die Situation in den Städten Kabul und Mazar-i-Sharif ist. Ihre Tante, ihr Onkel und ihre Cousinen leben in der afghanischen Hauptstadt. Sie ist regelmäßig mit Ihnen in Kontakt und erzählt:

    Meine Cousine, sie arbeitet als Lehrerin in Kabul, ist aus Angst und Vorsicht vor den Taliban nicht mehr aus dem Haus gegangen.

    Schulen in Kabul seien derzeit geschlossen. Außerdem ließen die Taliban viele Menschen nicht zum Flughafen in Kabul, die Menschen könnten das Land nicht verlassen. „Die Bilder im Fernsehen sind angsteinflößend. Wenn ich schon in Deutschland Angst habe, wie muss es dort sein?“, sagt die 21-jährige Studentin, die seit sechs Jahren in Riedlingen lebt.

    Viel Glück hatte Delawar Bangesh aus Friedingen: Er wollte ursprünglich am 5. August zu seinen Eltern und Geschwistern nach Kabul fliegen. Aufgrund einer Fortbildung des hiesigen Arbeitsamts durfte er allerdings nicht abreisen. Er wäre zum Zeitpunkt der Machtübernahme der Taliban in der afghanischen Hauptstadt gewesen. „Ich wäre gar nicht mehr aus der Situation herausgekommen“, sagt er der SZ. Denn er habe keinen deutschen, sondern einen afghanischen Pass. Am Dienstag habe er kurz mit seiner Familie in Kabul telefoniert: Seine Schwester, Schülerin in Kabul, gehe seit Tagen nicht mehr in die Schule. „Seit Tagen traut sie sich nicht, aus dem Haus zu gehen.“

    Sein Bruder sei bis vor Kurzem noch Polizist in Kandahar gewesen. Kurz vor der Eroberung der Stadt durch die Fundamentalisten habe er gegen diese gekämpft. Dann sei er Richtung Kabul geflohen und habe am Anfang dieser Woche versucht, in den Flughafen der Hauptstadt einzudringen, um mit Hilfe der Amerikaner das Land verlassen zu können – ohne Erfolg. „Er hat sich nun versteckt und lebt in Angst. Schließlich hat er gegen die Taliban gekämpft“, erzählt der 27-jährige Friedinger.

    Hab und Gut in Kabul gelassen

    Die aus Riedlingen stammende Charlotte Mohn hat in den vergangenen Monaten für die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Kabul gearbeitet. Das ist eine Organisation der Vereinten Nationen, die auf nationaler und zwischenstaatlicher Ebene operationale Hilfsprogramme für Migranten durchführt. Anfang Juni verließ sie das Land für eine Woche.

    Später teilte ihr Arbeitgeber mit, sie solle fortan im Homeoffice außerhalb Afghanistans arbeiten. Das tut sie nach wie vor, obgleich Ende Juli eine Rückkehr in die größte Stadt des Landes geplant war. Doch da war der Eroberungszug der Taliban bereits voll im Gange. Charlotte Mohn musste weiter im Homeoffice bleiben und durfte nicht zurückkehren. Sie sagt, die meisten afghanischen Kollegen seien noch im Land und arbeiteten weiterhin für die Organisation, die dort mehr als 290 Menschen beschäftige.

    „Einige Mitarbeiter berichten, dass sich das Leben überraschend schnell normalisiert hat. Sie fühlen sich sicher, ihre alltäglichen Erledigungen nachzugehen und möchten die Arbeit, so schnell es geht, wieder aufnehmen. Andere sind sehr verängstigt. Vor allem Frauen bevorzugen es, zu Hause zu bleiben und fürchten einschneidende Veränderungen“, schreibt Charlotte Mohn, die derzeit in Nairobi lebt. Und weiter:

    Einzelne Mitarbeiter in Afghanistan haben bereits Visa bekommen und konnten in den vergangenen Monaten mit ihren Familien in die Türkei, Vereinigten Staaten, Deutschland und das Vereinigte Königkreich ausreisen.

    Darüber hinaus sei der IOM Campus in Kabul von den Taliban bewacht und geschlossen. Charlotte Mohn war gezwungen, fast ihren gesamten Hausrat in der afghanischen Hauptstadt zu lassen. „Eine Kollegin, die am Morgen des Taliban-Einmarschs noch ausgeflogen ist, hat im Stress bewundernswerter Weise einige meiner Dinge mitgenommen, von denen Sie wusste, dass sie mir am Herzen liegen, zum Beispiel Schmuck, einen Hut und ein Schal.“

    Region wartet auf die ersten Ortskräfte

    Indessen steht das Landratsamt Biberach bereit, Ortskräfte aus Afghanistan in der Region zu empfangen. Die erste Familie habe am Mittwoch eintreffen sollen, aber aufgrund der unklaren Situation am Kabuler Flughafen sei niemand gekommen. „Wie es weitergehen soll, wissen wir im Moment nicht. Die aktuellen Vorkommnisse machen mich fassungslos und traurig. Unsere Unterkünfte sind derzeit nicht voll belegt, so dass wir noch Menschen aufnehmen könnten und gegebenenfalls müssten weitere Unterkünfte generiert werden“, teilt Petra Alger vom Landratsamt mit. 2019 ist der Landkreis der Initiative Seebrücke beigetreten und erklärte sich zum „Sicheren Hafen“ für Migranten.

    Unterschrift Foto: Hunderte von Menschen versammeln sich in der Nähe eines C-17-Transportflugzeugs der US-Luftwaffe an einer Absperrung des internationalen Flughafens. Bild: dpa, ©dpa