Deutlich mehr Flüchtlinge im Jahr 2021 als 2020, außerdem ergeben sich durch die Digitalisierung und die Pandemie bisher unbekannte Handlungsfelder: Die Caritas in Baden-Württemberg weist auf neue Herausforderungen gerade in der Flüchtlingsarbeit hin.
Die Beratungszahlen der Migrationsberatung befänden sich seit Mitte des letzten Jahrzehnts bis heute auf hohem Niveau, daher seien Spenden und ehrenamtliche Arbeit weiterhin unerlässlich.
Lucia Braß kennt als Leiterin des Migrationsdiensts bei der Caritas Biberach-Saulgau und Vorsitzende des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg die aktuellen Fragen aus erster Hand: „Vor allem die Digitalisierung ist für geflüchtete Menschen ein großes Problem“, sagt sie, „denn Behörden, Jobcenter oder potenzielle Arbeitgeber sind gerade in Zeiten der Pandemie und des Lockdowns häufig nur digital erreichbar.
Wie aber sollen Geflüchtete, die keine digitalen Endgeräte besitzen, sich digital bewerben? Wie sollen sie Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beantragen?“ Zwar gebe es Apps zum Deutschlernen und Aufklärung über die Möglichkeiten der beruflichen und akademischen Ausbildung: „Aber wie sollen Geflüchtete ohne Zugang sie nutzen?“
Digitale Angebote nötig
Ähnliche Fragen stellen sich, wenn Kinder aus Migrantenfamilien zwar wie alle anderen Schülerinnen und Schüler ins Homeschooling müssen, aber über keine eigenen Tablets verfügen: „Diese Kinder werden schnell abgehängt.“ Ihre Forderung: „Sprache, Ausbildung, Berufswahl – in diesen Bereichen brauchen Geflüchtete dringend digitale Angebote .“
Auch in den Caritas-Beratungsstellen im Südwesten werden digitale Schulungen angeboten – neben anderen Hilfen: „Migrationsberatungsstellen für Erwachsene und Jugendmigrationsdiensten sind für eingewanderte Menschen verlässliche Partner, wenn vieles andere wegbricht – Schule und Deutschkurse, Jobs, Praktika und Ausbildungsplätze, Lern- und Freizeitangebote. Mit ihrer Unterstützung können diese Menschen ihren Weg auch in schwierigen Zeiten gehen und ihr Leben nach den eigenen Vorstellungen gestalten“, betont Direktorin Annette Holuscha-Uhlenbrock vom Diözesancaritasverband Rottenburg-Stuttgart.
Dort sind 130 Mitarbeitende in der Flüchtlingsarbeit tätig. Der Zweckerfüllungsfonds Flüchtlingshilfe der Diözese Rottenburg-Stuttgart ermöglicht zudem kreative Projekte und insbesondere die Ehrenamtsbegleitung im Bereich Flucht.
Es kommen wieder mehr Menschen nach Baden-Württemberg
Dass viele neu zugewanderte Menschen weiterhin einen großen Bedarf an Beratung und Unterstützung haben, zeigen die Zahlen. In Baden-Württemberg wurden im vergangenen Jahr in den 58 Migrationsberatungsstellen für Erwachsene in katholischer Trägerschaft 15 207 Beratungsfälle gezählt. In den 24 Jugendmigrationsdiensten der katholischen Trägergruppe konnten im Jahr 2020 insgesamt 4535 junge Ratsuchende zwischen 12 und 27 Jahren aus 107 Nationen erreicht werden.
Diese Zahlen werden mutmaßlich steigen: Denn im vergangenen Jahr sind deutlich mehr Flüchtlinge nach Baden-Württemberg gekommen als noch 2020. Bis Ende November 2021 betrug die Zahl der neuen Flüchtlinge im Südwesten nach Angaben des Ministeriums der Justiz und für Migration 16 500. Im gesamten Jahr 2020 seien es dagegen nur rund 8000 Flüchtlinge gewesen.
Bis Mitte Dezember 2021 kamen demnach rund 70 Menschen pro Tag nach Baden-Württemberg. „Die aktuellen Migrationszahlen lassen keine kurzfristige Trendumkehr erkennen“, erklärt Migrationsstaatssekretär Siegfried Lorek.
Menschen sind teilweise traumatisiert
Zurück zu Lucia Braß nach Biberach, die den Trend der Landeszahlen für den Landkreis Biberach bestätigen kann. Insgesamt seien derzeit etwa 3500 Geflüchtete in dem oberschwäbischen Landkreis wohnhaft. Aber es werden mehr: „In den Vorjahren kamen monatlich 20 Geflüchtete zu uns, in 2021 waren es seit Oktober bis Jahresende etwa 60 Menschen vorwiegend aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und der Türkei.“
Auffällig: „Viele Menschen sind traumatisiert oder haben psychische Probleme.“ Dass der Familiennachzug ehemaliger Ortskräfte aus Afghanistan nicht möglich sei, belaste sehr: „Man muss aushalten, dass so wenig vorwärts geht, hier müssen wir ehrlich miteinander sein.“
Für die Menschen, die bereits hier sind, gibt es Angebote der Caritas. Lucia Braß berichtet: „Auf die neuen digitale Herausforderungen wollen wir mit unseren neuen Begegnungszentren wie am Beispiel unserer bewährten Einrichtung ,Livingroom’ eingehen, in denen künftig auch Geflüchtete ehrenamtlich unterwegs sind und auf Augenhöhe mit anderen Geflüchteten kommunizieren können, dadurch werden sie zu Multiplikatoren.“ Mit einem „Internet-Point“ wird dort geholfen: „Unterstützt werden natürlich alle Menschen.“ In Zeiten der Pandemie sei der erhöhte Beratungsbedarf deutlich zu spüren: „Ein wahrer Run!“
Inklusion in Schule und Beruf
Für die neu ankommenden Geflüchteten hält die Caritas ihre bewährten Angebote und Strukturen bereit, vor allem Migrationsberatung, Flüchtlingsberatung, Integrationskurse und Integrationsbegleitung. Joachim Glaubitz leitet in der Zentrale des Diözesancaritasverbandes Rottenburg-Stuttgart die Caritas-Dienste in der Flüchtlingsarbeit.
Er weiß, dass in den Landeserstaufnahmestellen (LEA), dann in den vorläufigen Unterbringungen und schließlich in der Anschlussunterbringung die Caritas präsent ist: „In den LEAs beraten wir beispielsweise über die Asylverfahren, aber dort bleiben die Geflüchteten nicht lange.“ Die ehrenamtliche Arbeit bei der Lern- und Hausaufgabenhilfe bleibe eine große Aufgabe: „Hier machen wir keinen Unterschied, ob die Menschen geduldet sind oder langfristig bleiben dürfen“, sagt Glaubitz, „es geht immer um Inklusion.“
Stichwort Inklusion in Schule, im künftigen Job, bei Behörden oder auf der Wohnungssuche: Der Erfolg hängt von digitalen Kenntnissen ab. Als modellhaft gilt ein Angebot des Malteser Hilfsdienstes in München. Die Bayern bieten im Rahmen der Flüchtlingsarbeit ein kostenfreies EDV-Training für Geflüchtete an. Die Inhalte werden durch ehrenamtliche EDV-Trainer in einer 1-zu-1-Beziehung vermittelt.
So können spezifische Lerninhalte und die Lerngeschwindigkeit an den Trainee angepasst werden. In Württemberg bietet die Caritas ähnliche Kurse im Hohenlohischen an. In Oberschwaben bisher nicht: „Hier könnten Spenden aus der Aktion ,Helfen bringt Freude’ uns helfen“, bittet Lucia Braß um Unterstützung, „damit die Geflüchteten ihre Kompetenzen um den Umgang mit den digitalen Endgeräten ergänzen können!“