Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wollen Zehntausende Menschen das Land verlassen. Gleichzeitig wird das Zeitfenster, in dem Menschen noch per Luftbrücke ausgeflogen werden können, immer knapper. Ghulam Saboor Jailani bereitet das schlaflose Nächte. Der 34-Jährige, der seit 2012 in Biberach lebt, sorgt sich um das Leben seiner Mutter und seines 20-jährigen Bruders in der südafghanischen Stadt Kandahar. Er richtet einen verzweifelten Appell an deutsche Politiker und Behörden.
Ghulam Saboor Jailani sitzt in einem Seminarraum des Christlichen Jugenddorfwerks (CJD) in Biberach. Hier hat er vor Jahren Deutsch gelernt. Seine Hände zittern. „Helft mir, meine Mutter und meinen Bruder herauszuholen“, sagt er und richtet diese Bitte an die Bundestagsabgeordneten und die deutschen Behörden. „Wenn meiner Mutter etwas passiert, kann ich nicht mehr leben. Sie ist eine der wichtigsten Bezugspersonen für mich“, sagt er.
Dass sie nach der Machtübernahme durch die Taliban in Gefahr schwebt, dessen ist sich Jailani sicher. „Sie hat dort für verschiedene Hilfsorganisationen gearbeitet, zuletzt für , Save the Children’“, erzählt er. Auch das Leben seines Bruders sei in Gefahr, wenn er sich weigere, sich von den Taliban rekrutieren zu lassen. „Ich habe von beiden Ausweisdokumente und hoffe, dass man uns hilft“, sagt Jailani.
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Er selbst musste Afghanistan bereits 2012 wegen der Taliban verlassen. Nach seiner Schulzeit hatte er in der Provinz Helmand im Süden des Landes eine Straßenbau- und Logistikfirma gegründet und auch Aufträge für die dort stationierten Nato-Truppen angenommen. „Ich wollte helfen, mein Land wieder aufzubauen.“ Die Taliban hätten ihn aufgefordert, einen Teil des Geldes, das er dafür erhalten habe, an sie abzugeben, was er nicht getan habe. Außerdem habe er Menschenrechtsorganisationen unterstützt. „Ich saß deswegen im Gefängnis, ein Teil meiner Mitarbeiter und einige meiner Cousins wurden von den Taliban getötet.“
Über Karlsruhe kam Jailani im Oktober 2012 nach Biberach, wo er zunächst in der Gemeinschaftsunterkunft in der Bleicherstraße lebte. Seine hochschwangere Frau musste er in Afghanistan zurücklassen. Sie und auch seine damals drei Kinder sah er erst viereinhalb Jahre später wieder, als er sie nach Abschluss seines Asylverfahrens nach Deutschland holen durfte. Die jüngste Tochter konnte er am Flughafen zum allerersten Mal in seine Arme schließen. „Wenn ich das Video sehe, muss ich heute noch weinen“, sagt er.
Inzwischen hat die Familie fünf Kinder und ist in Biberach gut integriert. Die zweitälteste Tochter besucht ab September das Gymnasium. „Wir haben in Deutschland eine zweite Heimat gefunden und nie Rassismus erlebt“, sagt Jailani. „Wir sind den Menschen und den Behörden hier sehr dankbar.“
Ich habe Depressionen und Alpträume.
Ghulam Saboor Jailani
Alles könnte gut sein, würden ihn nicht die Auswirkungen der schweren Zeit in Afghanistan verfolgen. Jailani leidet an einer Nervenkrankheit, die ihn zwingt, nachts Armschienen und eine Atemmaske zu tragen. „Ich habe Depressionen und Alpträume.“ Seit Februar ist er in Pflegegrad 2 eingestuft.
In seinem früheren Beruf kann der Mann mit der kräftigen Statur nicht mehr arbeiten. In Biberach ist er seit 2015 aufgrund seiner guten Deutschkenntnisse als Dolmetscher für seine Landsleute bei Ämtern, Gerichten und anderen Institutionen tätig. Auch in der Nachbarschaftshilfe engagiert er sich. „Ich bin immer bereit zu helfen“, sagt Jailani.
Nun hofft er, dass die deutsche Politik ihm helfen kann, seine Angehörigen zu sich zu holen. Denn Afghanistan sieht er vor einer düsteren Zukunft. Von den Versprechen der Taliban hält er gar nichts. „Sie geben sich jetzt kooperativ, um Geld vom Ausland zu erhalten“, vermutet er. Wenn Afghanistan wieder aus dem Fokus der Medien verschwinde, werde es auch wieder zu Gewalttaten und Exekutionen kommen, ist er sich sicher.
Von Bekannten im Land wisse er, dass die Taliban schon jetzt dabei seien, die Bevölkerung anhand von Listen zu überprüfen. „Sie nehmen den Leuten ihre Autos, Handys und das Geld ab“, sagt Jailani. Es herrsche das Chaos, die Leute hungerten, weil die Lebensmittel sich so verteuert hätten.
Für jeden, der zuvor für die Nato-Truppen oder internationale Organisationen gearbeitet habe, werde es jetzt lebensgefährlich. Dass die Reise aus der Provinz Helmand zum Kabuler Flughafen für Mutter und Bruder nicht ohne Risiko wäre, ist ihm bewusst. „Das würde ich aber ertragen, wenn ich wüsste, dass sie eine Chance haben, aus dem Land herauszukommen. Auch seinen Vater, einen pensionierten Staatsanwalt, der inzwischen 70 ist, habe er unter Tränen am Telefon versucht, von einer Flucht zu überzeugen. „Aber er will sein Heimatland nicht verlassen“, so Jailani. Auch für ihn selbst sei dieser Schritt vor Jahren sehr schwer gewesen, „weil ich in diesem Land aktiv war und versucht habe, etwas aufzubauen“.
Unterschrift Foto: Ghulam Saboor Jailani macht sich Sorgen um das Leben seiner Mutter und seines Bruders, die er gerne nach Deutschland holen würde. Bild: Gerd Mägerle, ©Gerd Mägerle